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Mittwoch, 30. November 2011

GEFÄNGNISKINDER

Tscheljabinsk - Ort der Angst, Ort der Hoffnung.

"Weil Kinder, die im Gefängnis geboren wurden, ein Zuhause brauchen", lautet die knappe und dennoch alles aussagende Antwort der Mitarbeiter in der "Sibirienhilfe", weshalb sie sich für das Vereinsprojekt "Mutter-Kind-Heim Tscheljabinsk" engagieren. Für Mitmenschen in der zivilisierten Welt mag sich die Notwendigkeit einer derartigen Initiative nicht erschließen, solange sie nur das ihnen bekannte Umfeld im Blickwinkel haben. Dort ist durch Menschenrechtserklärungen die Frage nach dem Schutz des Lebens eindeutig beantwortet. Dass insbesondere Kinder einen Anspruch auf gleichberechtigtes Aufwachsen haben, besagt nicht nur die UN-Kinderrechtskonvention, die "jedem Kind der Welt Schutz, Förderung und Beteiligung garantiert".

150 Säuglinge und Kleinkinder, schuldlos hinter Gittern 

Wie ein Hohn klingt da die Tatsache, dass im Frauengefängnis der sibirischen Millionenstadt Tscheljabinsk bis zu 150 Kleinkinder und Säuglinge leben. Wenn aus Armut und Verzweiflung in einem Umfeld, in dem der am Besten überlebt, der sich dem System der Korruption anschließt und in dem Morde zum Alltag gehören, Hoffnungslosigkeit erwächst, dann stehen die in der Verantwortung, die infolge ihrer politischen Mandate die Macht haben, die Missstände zu bekämpfen. Sind jedoch Mandatsträger selbst in die Korruption verstrickt, dann bleiben am anderen Ende der Gesellschaft unsäglich gequälte Seelen auf der Strecke.

Die "Sibirienhilfe der Armen-Schwestern vom Heiligen Franziskus (e.V.)" ist eine katholische Organisation mit Sitz in Aachen. Der einzigen Orden in Deutschland, der seit 160 Jahren die Armen speist, hat mit dem Projekt "Mutter-Kind-Heim Tscheljabinsk" die Herausforderung angenommen. Hier ist eine Anmerkung angebracht: Ein Großteil der Leserschaft tendiert dazu, in dem Moment, in dem ein Verein mit derartigem Namen und Bezug zum Glauben für den weiteren Bericht wichtig wird, sich vom Text abzuwenden. Man stelle sich selbst die Frage, ob nicht unabhängig von der Provenienz jede im Sinn der Menschenrechte tätige Einrichtung den Respekt verdient, unvoreingenommene Beachtung zu finden. Ein Urteil kann sich nur der erlauben, der sich der Information nicht verweigert.

Blicke voller Misstrauen. Die schlimme Vergangenheit zu bewältigen ist nicht einfach. Vertrauen und Hoffnung auf einen Neuanfang in der Zukunft, oftmals ohne familiären Rückhalt, müssen erst wachsen.
Traumatisierte Mädchen als Opfer des Systems

Es sind in der Regel von Beginn an benachteiligte Menschen, die in den Abwärtssog geraten. Diakon Arnold Hecker erläutert als Ansprechpartner: "Die jungen Frauen werden für nach westlichen Maßstäben relativ geringe Vergehen, die hier zumeist mit Strafen wie dem Ableisten von Sozialdiensten geahndet werden, dort zu drastischen Gefängnisstrafen verurteilt." Wenn Mädchen geschwängert werden und die Väter sich als "versehentliche Erzeuger" aus dem Staub machen, stehen die Mädchen häufig vollkommen allein gelassen da. Um zu überleben, bleibt lediglich der Ausweg Beschaffungskriminalität, bei der wiederum Männer im Hintergrund die Fäden ziehen und die tatsächlichen Profiteure sind. Wird ein Mädchen zum Beispiel bei einem Diebstahl von der Miliz gefasst, verläuft die Suche nach den wahren Schuldigen in den verworrenen Strukturen der kriminellen Organisationen zwangsläufig im Sand. Das schwächste Glied der Kette landet im Gefängnis, in dem die Abwärtsspirale rasant Fahrt aufnimmt. Hinter dem Ganzen werden Banden vermutet, die großes Interesse daran haben, aus den Reihen dieser zusehends traumatisierten Mädchen ihren "Nachschub" für Prostitution und Mädchenhandel zu rekrutieren. Konkrete Nachforschungen vor Ort sind extrem schwierig und gefährlich. "Die Radikalität bei der Fragestellung ist ein lebensbedrohendes Element", hat Hecker von Mitarbeitern bestätigt bekommen.

Im Frauengefängnis in Minsk verbüßen zur Zeit (Stand: November 2011) etwa 1500 Frauen Haftzeiten zwischen zwei und zehn Jahren. In einer Sonderabteilung leben 86 Mütter und 17 Schwangere. Für diese ist die Existenz des Mutter-Kind-Heims eine der wenigen echten Chancen, ohne familiären Rückhalt und gemeinsam mit ihren Kindern, die im Frauengefängnis geboren wurden, einen Neuanfang zu bewältigen. Transparenz, Nachvollziehbarkeit und der Anspruch aus Hilfe Selbsthilfe erwachsen zu lassen, sind die Grundsätze der Arbeit in dem im August eröffneten Heim, das zur Aufnahme von sechs bis maximal acht Familien angelegt ist. Obwohl das von Schwerindustrie geprägte Gebiet nur wenige Hundert Kilometer von der Grenze zu Europa entfernt liegt, erinnern die gesellschaftlichen Strukturen und die Lebensbedingungen für die normale Bevölkerung an die 50er und frühen 60er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts in unseren Breiten. So war es zum Beispiel für das Heim ein Anlass zu großer Freude, als man im März verkünden konnte "wir haben eine Toilette für den Innenraum bekommen".

So bescheiden die Einrichtung auch sein mag, den Bewohnerinnen und ihren Kinder kommt die Unterkunft im Mutter-Kind-Heim wie ein Paradies vor.
Nächstenliebe ist machbar

Leid ist ebenso wenig delegierbar wie Nächstenliebe. So einfach diese Erkenntnis zu verstehen ist, so schwer scheint sie in der heutigen profitorientierten Gesellschaft umsetzbar zu sein. In der Sibirienhilfe der Armen-Schwestern vom heiligen Franziskus leben Menschen vor, dass Nächstenliebe machbar ist, indem sie sich konkret mit Menschen solidarisieren. Vor Ort arbeiten drei Sozialpädagogen und zwei Nachtwachen, die den Müttern auch im -soweit dies überhaupt zugelassen wird- Gefängnis und im Familienzentrum zur Seite stehen. Der Rehabilittionsprozess im Heim dauert drei bis 18 Monate, in denen die jungen Frauen soziales Verhalten unter positiver Annahme ihrer Mutterrolle und die Fähigkeit ein eigen organisiertes Leben zu führen lernen. Minderjährige Mütter wohnen im Heim, bis sie das 18. Lebensjahr erreicht und eine einfache Berufsausbildung abgeschlossen haben. Wenn eine junge Frau im Heim ankommt, nachdem man ihr bei der Entlassung aus dem Gefängnis lediglich eine Rückfahrkarte in die Vergangenheit in die Hand gedrückt hat, findet sie im Gegensatz zur abweisenden Kälte, die ihr bisheriges Leben bestimmt hat, eine Gemeinschaft, in der zwischenmenschliche Werte noch eine Bedeutung haben. Hier dürfen sie den ganzen Tag über als Mütter für ihre Kinder da sein. Für viele ist die vollkommen neue Erfahrung nicht einfach zu verarbeiten, da eine normale natürlich funktionierende Mutter-Kind-Bindung im Gefängnis, in dem sie ihre Kinder pro Tag nur zwei Stunden sehen durften, nicht wachsen konnte. Die Selbstannahme ist der entscheidende Schritt auf diesem so langen und mühsamen Weg.

"Wer sich selbst nicht liebt, kann auch andere nicht lieben", sagt Diakon Hecker und wiederholt die Wichtigkeit des Tscheljabinsker Projekts unter dem Dach des Caritasverband im Bistum "Verklärung des Herrn" in Westsibirien. Die psychologischen Traumata werden von qualifiziertem Fachpersonal individuell analysiert und behandelt. Im Team der Diözesancaritasdirektorin Elisabeth Jakubowitz aus dem Orden der „Armen Schwestern vom Heiligen Franziskus“ arbeiten eine Psychologin, eine Psychotherapeutin und einer Hauswirtschafterin zusammen. Die monatlichen Kosten betragen 8000 Euro für "alles im funktionell, aber sehr spartanisch eingerichteten Heim“. So ist beispielsweise lediglich ein Badezimmer für alle vorhanden. Zwei Mütter teilen sich jeweils mit ihren Kindern ein Zimmer, ferner als Gemeinschaftsräume gelten die Wohnküche und ein Spielzimmer; die Privatsachen der Mütter werden im Keller gelagert. Was nach westlichen Standards als äußerst bescheiden gilt, empfinden die Mütter aus dem Gefängnis fast als ein Paradies. Für die Kinder ist es zumindest ein Ort, an dem ihnen das geboten werden kann, was zu den wichtigsten Faktoren für eine positive Entwicklung in den ersten Lebensjahren zählt: Mutterliebe.

Kontaktdaten:
Ansprechpartner für das Projekt ist Diakon Arnold Hecker unter der Rufnummer 02463 905060 und der Mailadresse arnold.hecker@online.de
Der Verein ist beim Amtsgericht Aachen unter der VR 4577 eingetragen und berechtigt, steuerlich absetzbare Spendenquittungen auszustellen.
Das Spendenkonto bei der Aachener Pax-Bank hat die Nr. 1030101010, BLZ 37060193.
Weitere Informationen bietet die kürzlich komplett überarbeitete Website www.caritas-siberia.org

Anmerkung: Im Lauf der Jahre habe ich bei meiner Arbeit für die Presse viele Organisationen kennengelernt, die dort aktiv sind, wo die Not am größten ist. Ich habe großen Respekt vor den Mitmenschen, die sich in diesen ehrenamtlich einbringen. Über Diakon Hecker habe ich zum Projekt "Mutter-Kind-Heim Tschaljabinsk" der Sibirienhilfe nähere Einblicke gewonnen. Es steht für mich außer Frage, dass dort in Westsibirien großes Unrecht geschieht, bei dem man nicht einfach wegsehen darf. "Was geht mich Sibirien an?", ist eine Frage, die von mangelnder Nächstenliebe zeugt. Ich hoffe, dass viele Leser dieses Berichts diese Frage nicht stellen und sich sagen: "Ich möchte helfen!"

copyright  Text:
Max Günter Jagodzinska
copyright Fotos: Verein
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